Wenige Themen sind so emotional wie eine Kündigung kurz vor der Rente. Nach Jahrzehnten im Betrieb steht nicht nur die wirtschaftliche Existenz auf dem Spiel, sondern auch die Frage nach Anerkennung, Gesundheit und Würde. Juristisch gilt: Eine Kündigung kurz vor dem Rentenalter ist nicht automatisch unzulässig. Aber sie unterliegt hohen Anforderungen des Kündigungsschutzes und hat erhebliche sozialrechtliche Folgen. Wer die Spielregeln kennt, schützt Ansprüche, vermeidet Lücken bis zur Rente und verhandelt auf Augenhöhe.
Was arbeitsrechtlich bei einer Kündigung kurz vor der Rente gilt – Schutz, Grenzen, Besonderheiten
Im Anwendungsbereich des Kündigungsschutzgesetzes muss jede ordentliche Kündigung sozial gerechtfertigt sein (§ 1 KSchG). Kurz vor der Rente kommen meist betriebsbedingte oder krankheitsbedingte Kündigungen ins Spiel; verhaltensbedingte Kündigungen sind seltener, aber nicht ausgeschlossen.
Bei betriebsbedingten Kündigungen ist die Sozialauswahl zentral: Dauer der Betriebszugehörigkeit, Lebensalter, Unterhaltspflichten und Schwerbehinderung sind zu berücksichtigen (§ 1 Abs. 3 KSchG). Gerade das höhere Lebensalter wirkt regelmäßig schützend, nicht belastend. Gleichzeitig ist eine Kündigung wegen des Alters als solches unzulässig; das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz verbietet Benachteiligung wegen des Alters (§§ 1, 7 AGG). Differenzierungen zugunsten älterer Beschäftigter in Sozialplan oder Auswahl sind dagegen zulässig, wenn sie angemessen sind (§ 10 AGG).
Form und Verfahren müssen stimmen
Vor jeder Kündigung ist der Betriebsrat anzuhören; ohne ordnungsgemäße Anhörung ist die Kündigung unwirksam (§ 102 BetrVG). Bei Massenentlassungen muss eine Anzeige bei der Agentur für Arbeit erfolgen (§ 17 KSchG). Die Kündigungsfristen richten sich regelmäßig nach § 622 BGB; längere Betriebszugehörigkeit führt zu längeren Fristen. Bei schwerbehinderten Menschen ist zusätzlich vor Ausspruch der Kündigung die Zustimmung des Integrationsamts erforderlich (§ 168 SGB IX); ohne diese ist die Kündigung nichtig.
Nach längerer Krankheit spielt das Betriebliche Eingliederungsmanagement eine große Rolle (§ 167 Abs. 2 SGB IX). Es ist keine Wirksamkeitsvoraussetzung, aber wer es ohne Grund unterlässt, hat es bei einer krankheitsbedingten Kündigung vor Gericht deutlich schwerer.
Aufhebungsverträge sind eine eigene Welt
Sie beenden das Arbeitsverhältnis einvernehmlich und bedürfen der strengen Schriftform (§ 623 BGB). Drucksituationen und widerrechtliche Drohungen können zur Anfechtung berechtigen (§ 123 BGB). Für Beschäftigte kurz vor Rentenbeginn sind Aufhebungsverträge besonders heikel, weil sie sozialrechtliche Sperrzeiten auslösen können.
Die sozialrechtliche Perspektive – Sperrzeiten, Ruhen, Übergang bis zur Rente
Wer einen Aufhebungsvertrag unterschreibt oder selbst kündigt, riskiert eine Sperrzeit beim Arbeitslosengeld von bis zu zwölf Wochen (§ 159 SGB III). Wird eine Abfindung gezahlt, kann der ALG-Anspruch zusätzlich ruhen, wenn die ordentliche Kündigungsfrist unterschritten wird oder eine Entlassungsentschädigung den Zeitraum „überbrückt“ (§ 158 SGB III). Das lässt sich häufig vermeiden, wenn das Beendigungsdatum mindestens die gesetzliche bzw. vertragliche Kündigungsfrist wahrt.
Wichtig ist die Arbeitssuchendmeldung unmittelbar nach Kenntnis der Beendigung (§ 38 SGB III). Die Dauer des Arbeitslosengeldes steigt mit dem Alter und den Vorversicherungszeiten; für ältere Versicherte kann sie bis zu 24 Monate betragen (§ 147 SGB III). Damit lassen sich Lücken bis zur Rente oft überbrücken – vorausgesetzt, die formalen Weichen werden richtig gestellt.
Beim Übergang in die Altersrente ist entscheidend, welche Rentenart erreicht werden kann. Für langjährig Versicherte und besonders langjährig Versicherte sieht das SGB VI verschiedene, teils vorgezogene Renten mit und ohne Abschläge vor (u. a. §§ 236, 236a SGB VI). Abschläge sind dauerhaft, sie betragen 0,3 Prozent pro Monat der Vorverlagerung (§ 77 SGB VI).
Ob eine frühere Inanspruchnahme finanziell sinnvoll ist, sollte genau gerechnet werden. Seit 2023 sind die Hinzuverdienstgrenzen in der vorgezogenen Altersrente entfallen; ein Zuverdienst ist grundsätzlich möglich, ohne die Rente zu kürzen. Während des Bezugs von Arbeitslosengeld bleiben gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung in der Regel abgesichert; eine vernünftige zeitliche Planung verhindert Versicherungslücken.
Typische Konstellationen aus der Praxis – und was daraus folgt
Beispiel 1
Eine 63-jährige Sachbearbeiterin erhält betriebsbedingt die Kündigung. Der Arbeitgeber verweist auf den Wegfall ihres Arbeitsplatzes. Vor Gericht stellt sich heraus, dass die Sozialauswahl fehlerhaft war: Jüngere Kolleginnen mit kürzerer Betriebszugehörigkeit wurden bevorzugt, obwohl sie vergleichbar sind. Das Arbeitsgericht kippt die Kündigung, weil die Kriterien des § 1 Abs. 3 KSchG nicht sauber angewendet wurden.
Am Ende schließen die Parteien einen Vergleich, der das Arbeitsverhältnis bis zum Ende der maßgeblichen Kündigungsfrist fortsetzt, eine deutliche Abfindung vorsieht und ein sehr gutes Zeugnis nach § 109 GewO festlegt. Der verlängerte Zeitraum reicht der Arbeitnehmerin, um die Voraussetzungen der abschlagsfreien Rente für besonders langjährig Versicherte zu erreichen – eine falsche, zu frühe Beendigung hätte sie dauerhaft Geld gekostet.
Beispiel 2
Ein 61-jähriger Maschinist ist lange krank. Der Arbeitgeber spricht eine krankheitsbedingte Kündigung aus, ohne zuvor ein BEM anzubieten. In der Güteverhandlung wird deutlich, dass leidensgerechte Anpassungen möglich gewesen wären. Der Anwalt des Arbeitnehmers verweist auf § 167 Abs. 2 SGB IX und die Rechtsprechung, nach der das Fehlen eines BEM die Darlegungslast des Arbeitgebers verschärft.
Statt einer riskanten Kündigung wird eine stufenweise Wiedereingliederung vereinbart; erst wenn diese scheitert, sollen Trennungsoptionen geprüft werden. Für den Beschäftigten bedeutet das die reale Chance auf Weiterbeschäftigung – und zumindest die Vermeidung einer vorschnellen Lücke vor der Rente.
Beispiel 3
Einer 64-jährigen Assistentin wird ein Aufhebungsvertrag „mit großzügiger Abfindung“ angeboten, Beendigung schon in drei Monaten. Auf den ersten Blick attraktiv, entpuppt sich die Lösung als Falle: Durch das Unterschreiten der ordentlichen Kündigungsfrist würde der ALG-Anspruch zunächst ruhen (§ 158 SGB III), zusätzlich droht eine Sperrzeit nach § 159 SGB III.
Zusammen mit ihrem Berater verhandelt sie das Beendigungsdatum auf das Ende der regulären Kündigungsfrist gemäß § 622 BGB und lässt den betrieblichen Grund neutral dokumentieren. Ergebnis: Kein Ruhen, keine Sperrzeit, voller ALG-Anspruch bis zur regulären Altersrente – die Abfindung bleibt als Puffer erhalten.
Beispiel 4
Ein 60-jähriger, anerkannter schwerbehinderter Angestellter erhält die Kündigung im Zuge einer Umstrukturierung. Der Arbeitgeber hat die Zustimmung des Integrationsamts nicht eingeholt. Die Kündigung ist schon aus diesem Grund unwirksam (§ 168 SGB IX).
In der Folge wird die Trennung neu verhandelt: Entweder es erfolgt eine sozial gerechtfertigte Auswahl und ein Zustimmungsverfahren, oder man einigt sich auf eine Beendigung zum Fristende mit angemessener Abfindung, Outplacement und Freistellung. Der längere Zeitraum hilft, den Anspruch auf eine vorgezogene Rente mit möglichst geringen Abschlägen zu planen.
Beispiel 5
Ein 62-jähriger Leitender erhält die Ankündigung, seine Stelle falle weg. Der Arbeitgeber schlägt eine einvernehmliche Trennung mit hoher Abfindung vor, aber verlangt eine sofortige Unterschrift. Er unterschreibt nicht und lässt die Rechtslage prüfen: Es liegt eine anzeigepflichtige Massenentlassung vor, die Anzeige nach § 17 KSchG ist noch nicht erstattet. Dieser Verfahrensfehler würde die Kündigungen angreifbar machen.
In den Verhandlungen setzt er durch, dass bis zum Abschluss der Anzeige- und Anhörungsverfahren keine Erklärungen abgegeben werden. Schließlich gelingt eine Lösung, die die ordentliche Kündigungsfrist wahrt, die Abfindung über § 1a KSchG anlehnt und ein Outplacement finanziert. So bleibt der ALG-Anspruch voll erhalten, während er sich mit professioneller Unterstützung neu positioniert.
Strategische Leitlinien für die Zeit kurz vor der Rente
Der stärkste Hebel ist Zeit. Wer Kündigungsfristen wahrt und sozialrechtliche Ansprüche sichert, kann Lücken bis zur Rente vermeiden. Übereilte Aufhebungsverträge sind selten die beste Lösung; sie sollten nur in Betracht kommen, wenn Beendigungsdatum, Zeugnis, Abfindung und sozialrechtliche Folgen wasserdicht gestaltet sind.
Bei betriebsbedingten Szenarien lohnt die kritische Prüfung der Sozialauswahl und der tatsächlichen Unternehmerentscheidung; bei Krankheit die saubere Dokumentation von BEM-Alternativen. Bei Schwerbehinderung ist ohne Integrationsamt nichts wirksam.
Und überall gilt: Keine Unterschrift im Erstgespräch, keine spontanen Schuldeingeständnisse, stattdessen Beratung einholen, Unterlagen sichten, Fristen notieren. Wer eine Kündigung bekommt, muss innerhalb von drei Wochen Klage erheben (§§ 4, 7 KSchG) und sich umgehend arbeitssuchend melden (§ 38 SGB III).
Fazit
Ja, eine Kündigung kurz vor der Rente ist rechtlich möglich – aber sie ist keineswegs Selbstläufer. Das Arbeitsrecht stellt hohe Anforderungen an Grund und Verfahren, das Sozialrecht verlangt kluge Gestaltung, damit keine Sperrzeiten, Ruhenszeiten oder Versicherungslücken entstehen. Für Beschäftigte mit langer Betriebszugehörigkeit und hohem Alter sind die Karten oft besser, als es sich im ersten Schock anfühlt: Sozialauswahl wirkt schützend, Verfahrensfehler sind häufig, und mit sauberer Planung lässt sich der Übergang in die Rente finanziell optimieren. Wer frühzeitig handelt, bewahrt Ansprüche, gewinnt Zeit und verhandelt Lösungen, die Würde und Lebensleistung respektieren.